Die "Trotzphase" ist ein westliches Phänomen

Die Trotzphase, mittlerweile auch häufig etwas positiver "Autonomiephase" genannt- wir alle kennen sie: Sie ist eine natürliche, wenn auch oft leidige Entwicklungsphase von Kleinkindern, die meist zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr bei ihnen ausbricht.

Es gebinnt häufig mit Frustbekundungen und lautstarkem Gemecker, wenn das Kleinkind, das gerade laufen gelernt hat, etwas nicht hinbekommt, oder etwas nicht darf. Wenn es zum Wickeltisch getragen wird, obwohl es nicht will, ihm ein Spielzeug weggenommen wird, oder der Spielzeugturm immer wieder umfällt.
Je müder das Kind, desto mehr zetert es.

Mit etwa zwei Jahren kommen neue Dimensionen dazu: Hauen, ziehen, stampfen, schreien, auf den Boden werfen. Zunehmdend provozieren die Kleinen, drücken Aggressionen körperlich aus.

Ganz normal! Jedes Kleinkind durchläuft diese Phase. Und mit dem fünften Geburtstag ist der Spuk in etwa vorbei. Oder?

Was, wenn ich Ihnen sagen würde: Das muss nicht sein!
Eine "Trotzphase" ist keineswegs normal, ist kein typisches Phänomen der menschlichen Entwicklung- tatsächlich kennen die allermeisten Kulturen diese Entwicklungsphase gar nicht.

Das Trotzen im Kleinkindalter ist etwas, das lediglich in westlich zivilisierten Kulturen auftritt- und auch wenn wir nicht aus unserer eigenen Kultur aussteigen können - es lohnt sich, darauf zu blicken, was uns von den Kulturen unterscheidet, die friedliche Kleinkinder haben. Und glücklicherweise sind die Grundvoraussetzungen dafür, die Trotzphase auszulassen, gar nicht so schwer herzustellen:

Belobhudeln Sie Ihr Kind nicht permanent.

Im ersten Jahr platzen wir nur so vor Liebe und Stolz, wenn wir sie ansehen. Sie lernen stetig Neues dazu, und wir kommentieren das voller überschwänglicher Euphorie, um das Baby in seinem Tun, seiner Entwicklung zu bestätigen.

Schon dieser Umgang mit unseren Babys unterscheidet uns von vielen anderen Kulturen: In ihnen ist es üblich, dass Babys von großen Geschwistern mitgenommen werden, die ihren Alltag in Kindergruppen mit Spielen und Zuarbeit zu Haushaltsaufgaben verbringen.
Der Umgang von Kindern mit Babys und Kleinkindern hat einen entscheidenden Unterschied zu dem, wie Erwachsene in unserer leistungsorientierten Gesellschaft mit ihnen umgehen: Kinder schenken den Kleinsten ebenfalls Aufmerkamkeit, kommentieren ihr Verhalten, sprechen sie an, und freuen sich mit ihnen über neu erlernte Fähigkeiten- doch: Sie nutzen Euphorie nicht als Instrument, um ein bestimmtes Verhalten zu verstärken.

Eine "Trotzphase" ist keineswegs normal.
Die allermeisten Kulturen kennen dieses Phänomen nicht.

Lob und auch übereuphorische Reaktionen von uns, die das Ziel verfolgen, dem Baby ganz klar zu zeigen: "Das finden wir gut und wir bestärken Dich, wenn Du das tust" machen tatsächlich abhängig. Unsere allzu euphorische Reaktion möchten die Kleinen immer wieder erfahren, und sie werden nur noch das tun, was diese überschwänglichen Reaktionen auslöst. Bleibt Publikum aus, werden sie sich auch nicht bemühen, das Verhalten zu zeigen. Sie wollen immer Belohnung. Bleibt ihre gewohnte "Dosis" aus, buhlt das Baby um Aufmerksamkeit.

Dies heißt nicht: freuen Sie sich nicht mit dem Kind, wenn Sie sich ehrlich freuen. Aber: Achten Sie einmal darauf, wie häufig sie aktiv Ihr Kind bestärken und loben- und fahren Sie ständiges "Toll", Klatschen, "Fein!" und "Gut gemacht" zurück. Babys brauchen einen Resonanzboden echter Emotionen, und keine künstliche Bestätigung, die es in der "echten" Welt nicht wiederfinden wird.

Denn: wenn plötzlich nicht mehr ständig gelobt wird, fehlt dem Kind etwas. Es wird alles tun, um diese Menge an Aufmerksamkeit und Rückmeldung zu bekommen, die es als normal kennenlernte. Dies sorgt für Frust- denn diesen Status wird es nicht zurückbekommen.

Richten Sie eine Ja-Umgebung ein.

Nun wird ihr Baby mobiler, es wächst in ihm ein innerer Drang nach dem Entdecken der Welt, nach Selbstwirksamkeit und damit einhergehenden Erfolgserlebnissen- denn so wird es sich in den nächsten zwei Jahren unglaublich schnell weiterentwickeln. (Unendlich viele Dinge, und Begriffe kennenlernen, klettern, hüpfen, balancieren, werfen,..)
Mit tausend neuen Möglichkeiten, mit der Umwelt zu interagieren, entwickelt es ständig neue Wünsche. Wo vorher "nur" Grundbedürfnisse standen (Schlaf, Nahrung, Nähe, Ansprache, Körperpflege, Ruhe, Wärme,...), entstehen nun situative Wünsche. (Ich möchte das dort haben, ich möchte dort hinkrabbeln, ich möchte dies anfassen, ich möchte damit spielen,...).

Und jetzt - stürzt plötzlich alles auf das Kleinkind ein: Es ist ständige Bestätigung als Baby gewohnt, und dass es Euphorie gespiegelt bekommt, und seine Bedürfnisse befriedigt werden.

Jetzt, wo in ihm der starke Drang wächst, die Welt zu erforschen, stößt es in unserer materiellen Welt - vor Allem im eigenen Zuhause - permanent auf Begrenzung: Sie dürfen sich hier nicht hochziehen und dort nicht hinkrabbeln, dies nicht anfassen, das nicht in den Mund stecken, und damit nicht spielen, schlagen oder laute Geräusche erzeugen.

Überschwängliches Lob und bestärkende Euphorie machen tatsächlich abhängig.

Dem Baby stürzt eine Welt ein:
Die übergroße Euphorie, an die es sich gewöhnt hatte, bleibt aus, (denn die Abstände zwischen Meilensteinen werden größer), gleichzeitig erfährt es stattdessen vermehrt Ablehnung und Kritik ("Lass das!", "Hör auf!", "Lass das los!", "Nicht damit spielen") und bekommt vom Umfeld Ungeduld, Genervtheit und vielleicht sogar Verärgerung gespiegelt, die an Stelle ständigen Zuspruchs tritt.

Und nicht nur das: die vielen Begrenzungen in Form von "Neins" unterdrücken auch ständig ihren natürlichen inneren Drang nach Erforschung und Erkundung.

Das Kind erfährt ein Minus an Bestätigung, einen erheblichen Zuwachs an Ablehnung, und wird ständig davon abgehalten, Selbstbestätigung zu erfahren, indem es sich frei in seiner Umgebung bewegt.
Für das Kind ist das dramatisch.

Babys und Kleinkindern in ursprünglicheren Kulturen geht es keineswegs so. Die älteren Kinder um sie herum stören sich nicht an Lärm, Unordnung oder Schmutz, und die Natur lässt sich mit viel weniger Einschränkungen ausprobieren, beklettern und bespielen, als das heimische Wohnzimmer.
In Indien werden Kinder bis zum fünften Lebensjahr überhaupt nicht eingeschränkt oder reglementiert. In der Folge sind die Kinder sehr kooperativ, wenn sie eine Anweisung erhalten.

Was können Sie also tun?
Richten Sie eine Ja-Umgebung ein. Das heißt: Machen Sie Ihre Wohnung so kinderfest wie möglich. Bewahren Sie alles, was dem Kind gehört oder frei zugänglich sein soll, auf seiner Höhe auf- und alles Andere: Darüber.
Räumen Sie alles weg, was das Kind nicht erreichen soll. Schalten Sie so viele "Neins" wie möglich schon im Vorhinein aus.

Wir Eltern sind es,
die ganz plötzlich im Umgang mit den lieben Kleinen brechen!

Das Kind kann nichts dafür, dass wir uns derart materiell eingerichtet haben. Es will alles anfassen, kennenlernen, anlecken, ausräumen, ziehen, drücken, schieben,... das ist sein innerer Drang, der es zur Weiterentwicklung "zwingt". Übernehmen Sie die Verantwortung dafür, ihrem Kind eine dementsprechende Umgebung zu bieten.

Wie genau das geht, einfache Tipps und Tricks finden Sie im gesonderten Artikel zum Thema.

Berücksichtigen Sie Ihr Kleinkind!

Viele Stress- und Frustrationsmomente sind hausgemacht. Natürlich ist es nicht, dass wir den lieben, langen Tag zu tun haben, unser Alltag gefüllt ist mit Hektik, Terminen und To-Do-Listen, und festen, starren Tagesabläufen, die keine Rücksicht auf Tagesform und Laune nehmen.

Nun leben wir nicht mehr in einem Dorf, das sich gemeinsam um alles kümmert. Doch unsere Vorstellung, das Kind müsse einfach naturgegeben mitziehen mit gleich viel Kraft und im gleichen Tempo- das ist unfair. Wir haben die Rahmenbedingungen geändert, nun sollten wir auch mit dem Kind rechnen.

Vermeiden Sie Zeitdruck!

Ein Kind lebt im Moment. Es lernt im Spiel, in das es sich vertieft. Es kann gar nicht sofort umschalten. Es ist darauf gepolt, eine Aktion so lange durchzuführen, bis das Gehirn befriedigend stimuliert ist. Unterbrechen wir es, ist es frustriert. Denn die erwartete Dopamin-Ausschüttung bleibt aus.
Sie sind ja auch frustriert, wenn sie aus etwas herausgerissen werden, worin sie gerade total aufgingen, und was nun unvollendet bleiben muss.

Planen Sie also so, dass Sie Zeit haben, das Kind darauf vorzubereiten, dass es bald zu spielen aufhören muss. Planen Sie genug Zeit ein, dass sie es im Spiel gewähren lassen können.

Spielende (sich selbst beschäftigende) Kinder stört man nicht!

Aus bereits oben beschriebenem Grund: Lassen Sie so häufig wie möglich Ihr Kind in Ruhe spielen. Stören Sie selbst so selten wie möglich aktiv von außen das Spiel.

Denn je häufiger Ihr Kind seine "Projekte" ungestört durchführen kann, desto mehr Dopamin regnet es im Gehirn. Das Kind ist dadurch viel zufriedener und ausgeglichener.
Außerdem sind diese Zeitinseln Ihre Chance, Ihren eigenen Dingen nachzugehen.

Und zu guter Letzt:

Lernen Sie aus Trotz- und Wutanfällen!

Ihr Kind kann noch nicht mit diesen neuen Gefühlen umgehen. Es ist vor einem Alter von vier Jahren noch nicht in der Lage, etwas extra zu tun, oder Sie zu ärgern. Es versteht auch noch nicht, dass es mit sinem Verhalten Gefühle in Ihnen auslöst. (Mehr dazu hier.)

Der Grund ist immer ein Zuviel an Frustration, das sich entlädt. Begleiten Sie Ihr Kind also liebevoll, bis die Wut vorübergezogen ist (wie Sie ohne viel Heckmeck mit einem Wutanfall umgehen und ihn ohne Drama beenden können, können Sie hier nachlesen), und blicken Sie dann zurück auf die Situation, um in Zukunft solchen Momenten vorzubeugen.

Halten Sie die Frustration Ihres Kindes auf einem Mindestmaß, werden sich die Wutanfälle rapide minimieren. Versprochen! Sie können die Trotzphase so sogar ganz auslassen.

Bei Interesse, besuchen Sie eines meiner Seminare oder Workshops zum Thema!

Lesen Sie auch den Artikel zum Thema "Grenzen setzen" (denn auch mit Ja-Umgebung gibt es sie!)
und "Wie Kinder kooperieren."

Andere Kulturen kennen keinen Trotz!
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