Kinder wollen erforschen
Kinder kommen auf die Welt, ohne physikalische Gesetze und die Beschaffenheiten der Dinge zu kennen.
Sobald die Babys mobiler werden, eröffnet sich ihnen zum ersten Mal die Welt. Nun können sie endlich dem entwicklungspsychologischen Drang nachgeben, die Welt zu entdecken. Es beginnt ein neuer Entwicklungsabschnitt, ein genetisches Programm, das es dazu antreibt, sich die Welt anzueignen: Sie zu be-greifen, zu erforschen- und so letzlich zu verstehen.
In ihnen ist der unstillbare Drang, alles um sie herum mit allen Sinnen zu erfahren. Dabei werden sie so viele Dinge wie möglich so vielen Bedingungen wie möglich aussetzen: Darauf beißen, darauf treten, es werfen, rollen, unter Wasser tauchen, fallen lassen, verbiegen, auseinanderreißen, beklettern,... immer wieder, so oft, bis sie aus ihren Wiederholungen lernen und daraus (physikalische) Gesetzmäßigkeiten und die Ordnung der Welt ableiten können. Wie wir es bis heute in Forschungslaboren tun.
Nur durch diese Phase lernten auch wir, welche Dinge kaputt gehen, wenn sie nass werden (weil wir sie in den Mund genommen haben), wissen, welche Gegenstände unser Gewicht aushalten, und welche nicht, was vom Aufprall auf den Boden zerstört wird, oder nicht, welche Möbelstücke unser Gewicht aushalten, und welche nicht. Was weich oder hart ist, was laut oder leise ist, wenn es herunterfällt.
All dies weiß ein Baby oder Kleinkind noch nicht. Und da jeder Mensch nur über Wiederholungen lernt, aus denen unser Hirn schließlich Gesetzmäßigkeiten ableitet, muss das Kleinkind nun mit allem Möglichen experimentieren - mit so vielen verschiedenen Dingen, wie es geht, und so häufig wie möglich.
Nur, weil wir alle dies taten, können wir mittlerweile voraussagen, wie sich ein Gegenstand verhalten wird, wenn wir ihn z.Bsp. Hitze aussetzen- auch wenn wir das noch nie probiert haben.
Die Menge an Erfahrungen, die das Kleinkind in diesem Entwicklungsabschnitt bis etwa zum vierten Lebensjahr sammeln kann, hängt direkt mit ihrem intellektuellen Potential zusammen, das sie entwickeln werden. Lernt das Kind in dieser Phase hingegen nicht genug, leidet seine Hirnentwicklung. Kleinkinder, die sensorisch vernachlässigt werden, (z.Bsp., weil sie kaum das Gitterbett verlassen dürfen), prägen sogar geistige Behinderungen aus.
Das Kleinkind entdeckt nur durch tausende Wiederholungen die Welt. Je mehr es in dieser Zeit frei ausprobieren und experimentieren darf, desto mehr schult es auch seine Intelligenz.
Diese erste praktische Erforschungsphase, an die sich hinterher die theoretische Warum-Phase anschließt, ist ganz geprägt von intrinsischer Motivation, dem aus sich selbst kommenden Wissensdurst, lernen zu wollen. Die Kleinkinder werden die ersten bewussten Lernprozesse erleben- und sich tief einprägen, ob sie Lernen mit positiver Befriedigung verbinden, oder mit Frust, und dem schließlichen Rückgang von Interesse. Je häufiger wir in dieser Lebensphase eine Aktion unterbinden, die dem Fotschungswillen des Kindes entspringt, desto weniger Neugierde wird es in Zukunft aufbringen. Sein Lernwillen sinkt mit jedem Mal und ist grundlegende Erfahrung für ihr späteres Verhältnis zum Lernen, und ihr Maß an Interesse und Motivation, das sie aufbringen können.
Wie können wir also diesen Entwicklungsabschnitt unterstützen?
Die Wohnung zu einer Ja-Umgebung gestalten
Der normale Lebensraum der Menschen ist die Natur. Diese lässt zu, dass jedes Teil von ihr begutachtet, angefasst, ausprobiert wird. Doch in unseren Wohnungen, in denen unser Alltag mittlerweile vor Allem stattfindet, sieht das schon ganz anders aus: Putzmittel sind gefährlich, Möbel und Wände dürfen nicht bemalt, und die Vase nicht heruntergeworfen werden.
Dennoch müssen unsere Kinder bis etwa zur Vollendung ihres vierten Lebensjahres haufenweise Erfahrungen sammeln.
Da diser Entiwcklungsprozess und damit auch der große Forschergeist endet, unabhängig davon, ob das Kind genug Erfahrungen gesammelt hat, sollten wir Eltern nun dafür sorgen, dass unsere Wohnung ein bereitwilliger Erfahrungsraum wird. Eine Ja-Umgebung.
Eine Ja-Umgebung einrichten bedeutet, das Umfeld des Kindes so vorzubereiten, dass wir so wenig wie möglich "nein" sagen müssen, wenn sie ihrem Forscherdrang nachgehen.
Das heißt: Auf Kinderhöhe durch die Wohnung zu gehen: Alles Mögliche, was sich in Erreichbarkeit des Kindes befindet, begutachten und entscheiden: Darf es erforscht werden? Wenn nicht: Dann in eine Höhe räumen, die das liebe Kleine nicht erreichen kann. Auf diese Art und Weise frei gewordene Räume können nun mit dem bestückt werden, was in Kinderhände darf:
Die untersten Bücherregalfächer nach oben verlagern, dafür auf Kinderhöhe Kinderbücher einräumen, oder alte Zeitschriften und Zeitungen, die zerrissen, probeweise gegessen und betrachtet werden dürfen.
In die unteren Küchenschubladen kommen Küchengegenstände, die nach Herzenslust bespielt werden dürfen. Eine Decke liegt bereit, damit die Töpfe nicht zu laut auf den Fliesen scheppern.
Ebenso sensible Phasen, die über Wissbegierde, Neugier, Motivation und Interesse des Kindes entscheiden, die es in Zukunft aufbringen wird, sind die sich anschließende Warum-Phase, und natürlich die Erfahrungen, die es in der Schule sammeln wird.
Verschließen Sie so wenig Dinge wie möglich. Denn es beschränkt den Entwicklungsdrang ebenfalls, wenn alles auf erreichbarer Höhe unerforschbar ist. Stellen Sie stattdessen lieber auf Kinderhöhe so viel wie möglich zur Verfügung, was das Kind erforschen kann.
Kinder wollen "echte" Dinge erforschen
Sicher ist es Ihnen auch schon untergekommen: Kleinkinder wühlen lieber in der frisch gefalteten Wäsche, als mit ihrem Matchboxauto zu spielen. Warum das so ist?
Ihr genetisches Programm sorgt dafür, dass sie sich vor Allem für das interessieren, was sie im Umfeld häufig in Benutzung sehen. Denn damit werden sie wohl auch später hantieren müssen. Daher ist der Kochtopf viel interessanter als das Spielzeug, mit dem sich die Eltern nie im Alltag beschäftigen.
Bieten Sie Ihrem Sprössling daher Ähnliches an, mit dem Sie sich gerade beschäftigen. Tatsächlich sind Kinder mit dem Allltäglichen mehr als zufrieden. Sie wollen von sich aus gar nicht unbedingt besonderes Spielzeug in diesem Alter haben.
Ihrem Kind so viel Freiraum wie möglich zu lassen, seine Umgebung auszuprobieren, ist die beste Frühförderung, die es gibt.
Kindern erste Grenzen setzen
Auch mit einer Ja-Umgebung und trotz weggeschlossener Putzmittel wird der größere Wirkungskreis der Kinder zu Situationen führen, in denen wir sie vor Gefahren schützen, oder aber Gegenstände vor ihren Experimenten schützen müssen. Dies werden erste Grenzen sein.
Lesen Sie dazu auch: Kinder brauchen Grenzen!
Wichtig ist, uns selbst in der Verantwortung zu sehen: Unsere Umgebung ist nicht mehr natürlich, der genetische Drang der Erforschung ein Programm, und kein bewusster Wille des Kindes. Auch können Kinder bis zm Alter von etwa vier Jahren noch nicht verstehen, das ihr Tun Auswirkungen auf das Umfeld und andere Menschen hat. Sie verstehen bis zu diesem Alter Einschränkungen auch auf sich persönlich bezogen, und können diese nicht einem bestimmten Verhalten zuordnen.
Wenn also nun ein Moment kommt, in dem wir das Kind in seinem Forschungswillen einschränken müssen, sollten wir dies möglichst sanft tun- und möglichst, ohne dabei unbedingt "nein" sagen zu müssen. Selbstverständlich sind einzelne Neins kein Problem. Doch zu schnell neigen wir dazu, erst einmal grundsätzlich "Nein" zu sagen. Daher lohnt es, sich etwas Anderes anzugewöhnen.
Um die Aufmerksamkeit des Kindes zu bekommen, sollten Sie zuerst seinen Namen sagen, und dann mit Blickkontakt auf es zugehen, erklären, dass dieser Gegenstand kaputtgehen, oder sich das Kind daran verletzen kann, und im gleichen Atemzug etwas anderes anbieten. So löst sich eine Situation ohne viel Aufhebens.
Dabei sollten Sie für sich lernen: Ich hätte die Tür zu diesem Raum schließen, oder den Gegenstand wegräumen sollen. Das Kind kann all unsere seltsamen Regeln, was nun bespielt werden darf, und was nicht, und warum- nun wirklich nicht durchblicken.
Mehr dazu hier: Mein Kind kommt unfertig zur Welt - was Sie von Ihrem Kind rein entwicklungspsychologisch nicht erwarten können.
Gibt es immergleiche Situationen, in denen Sie "Nein" sagen müssen, sollten Sie sich eine Lösung überlegen. Denn: "Nein"s, die wir äußern, können sich Kinder bis 2,5 Jahren gar nicht merken, geschweige denn an eine bestimmte Situation knüpfen. Und auch danach werden sie häufig in ihrem Wissensdurst vergessen, dass es das nicht darf- oder auch Interesse entwicklen, was denn so Spannendes geschehen könnte- ohne bösen Willen! Ärgern können Kinder frühestens mit vier Jahren, wenn sie langsam begreifen, dass andere Menschen andere Gefühle haben als sie, und sie selbst die Stimmungen anderer mit ihrem Verhalten beeinflussen können.
Viel Spaß und Erfolg mit Ihrer Ja-Umgebung. Sie werden Frust durch Freude ersetzen.
Siehe auch hierzu: Mein Kind kommt unfertig zur Welt.
