Grenzenlosigkeit tut Kindern nicht gut
Kinder grenzenlos alles tun und lassen zu lassen, was sie wollen, ist unverantwortlich - da sind sich die allermeisten Menschen einig. Es ist unverantwortlich, weil Kinder vor Gefahren geschützt werden müssen, und weil die Kleinen lernen müssen, dass es Grenzen gibt. Dass sie Rücksicht auf die Grenzen anderer Menschen nehmen müssen.
Sonst, so die Vorstellung mit Blick zurück auf die antiautoritär erzogenen Kinder, werden sie eines Tages, wenn sie mit der "harten Realität" konfrontiert werden, nicht mehr klarkommen. Sie haben nicht gelernt, mit Frust umzugehen, können nicht aushalten, wenn nicht alles nach ihnen geht. Nehmen keine Rücksicht auf andere. Sind egozentrisch.
Das stimmt. Kinder, die nie erfahren, dass ihr Tun Auswirkungen auf andere hat, können gar nicht anders, als egozentrisch werden. Es dreht sich ja alles nur um sie. Auch lernen sie Frust, Warten, Aufschub etc nicht kennen. Das ist unfair ihnen gegenüber.
Andererseits reagieren Kinder, die sehr viele Grenzen erfahren und daher häufig frustriert sind, auch ähnlich: Ihnen kommen irgendwann der Willen, die Kraft und die Bereitschaft abhanden, zu kooperieren, sich unterzuordnen oder zurückzustellen. Sie "brechen" aus und rebellieren gegen jede Form von Grenzen.
Wie finden wir gesunde Mittelwege?
Wie so häufig: Kinder einfach mit dem "echten" Leben von Anfang an in Kontakt sein lassen, sie Grenzen erfahren lassen, die das Leben vorgibt. Statt künstlich welche zu etablieren, die ohne Grund frustrieren. Uns klar machen: Die Grenzen sind bereits da. Wir müssen sie nicht schaffen. Sie nur als Erfahrungsschatz für unsere Kinder nutzen.
Es gibt genug Grenzen!
Es ist doch so: Wir alle, auch unsere Kinder, sind tagtäglich von Grenzen umgeben, die das Leben eben so mit sich bringt. Es gibt keine "echte Welt", die "später" auf das Kind eintrifft, wenn wir sie von vornherein im wirklichen Leben einbinden.
Grenzen, die uns alle - auch unsere Kinder - immerfort umgeben, lassen sich in vier große Kategorien einteilen:
Lesen Sie dazu auch: Wie Kinder kooperieren und bereitwillig folgen
- Persönliche (körperliche, emotionale, seelische) Grenzen, begrenzte Fähigkeiten unserer Mitmenschen
- wenn unseren Mitmenschen etwas zu laut, zu viel, zu doll, zu wild, schmerzhaft, unangenehm ist
- wenn Papa das Kind nicht mehr tragen kann, weil der Rücken schon schmerzt
- eigene (körperliche, emotionale, seelische) Grenzen, begrenzte Fähigkeiten
- wenn das Kind selbst vom Sprung aus dem Fenster definitiv verletzt würde, oder die Foltersezenen im Film ab 18 Jahren Schaden an der Kinderseele des Kleinkindes anrichten würde;
- wenn das Laufen einfach noch nicht klappen will oder das Spielzeug unerreichbar weit oben steht
- physikalische Gesetzmäßigkeiten oder andere Unmöglichkeiten
- wenn das Spielzeug zerbrochen ist, kann es nicht weiter benutzt werden, und wenn die Eisdiele geschlossen hat, können wir kein Eis kaufen
- gesetzliche, moralische oder gesellschaftliche Normen
- ein Spielzeug darf nicht aus dem Kindergarten geklaut werden, aus einer fremden Tasche darf das Kind nichts herausnehmen, und im Restaurant darf das Kind nicht auf fremden Tellern herumpatschen
Solche Grenzen sind situativ, abhängig von den handelden Personen, Zeit, Ort und Umständen. Sie gelten nicht generell. Sie treten nur in den Momenten auf, wenn sie eine Rolle spielen:
Während die Mutter zum Beispiel ihrem Kind eine persönliche Grenze aufzeigt, weil sie den Geräuschpegel zu hoch findet, hätte der Vater sich vielleicht nicht gestört gefühlt- und an einem anderen Tag oder in einer anderen Umgebung (zbsp draußen) hätte auch die Mutter den gleichen Geräuschpegel nicht als störend empfunden.
Echte Grenzen sind:
persönliche Grenzen der Mitmenschen
eigene persönliche Grenzen
physikalische Grenzen, Unmöglichkeiten
Gesetze, Moral, gesellschaftliche Normen
Das Kleinkind wiederum kann nicht ohne Verletzung von einer 2 Meter hohen Mauer springen. Mit Hilfe allerdings ist es plötzlich möglich, auch in einer Turnhalle mit großen Matten darunter, oder aber von einer niedrigeren Mauer oder mit fortschreitendem Alter wäre das kein Problem.
Ein Spielzeug geht nicht immer unbedingt kaputt, wenn es herunterfällt, je nach Material des Gegenstandes, des Untergrundes, der Fallhöhe könnte es unbeschadet bleiben. Manche Spielzeuge können repariert werden, andere nicht. Die geschlossene Eisdiele hat morgen eventuell wieder geöffnet.
Das Spielzeug aus dem Kindergarten darf gerne mitgenommen werden, wenn es abgesprochen ist, oder aus der Flohmarktkiste stammt. Das Kleinkind darf etwas aus der Tasche einer fremden Person nehmen, wenn diese lächelnd zusieht, und es darf auch im Restaurant etwas von fremden Tellern nehmen, wenn es dazu eingeladen wurde, den Keks zu probieren.
Klingt kompliziert mit vielen Wenns und Abers?
Das gute an Grenzen ist: Sie sind nur da, wenn sie eine Rolle spielen. Im Gegensatz zu allgemeingültigen Regeln sind sie nicht starr, nie unbegründet. Nicht willkürlich. Sie sind eine Resonanz der Welt auf uns. In diesem Moment.
Unsere Kinder lernen durch sie Resonanz.
Grenzen sind situativ, abhängig von den handelden Personen, Zeit, Ort und Umständen. Zeigen Sie dem Kind nur Grenzen auf, wenn diese gerade tatsächlich vorhanden sind.
Lehrt Kindern Grenzen statt Regeln!
Wir Menschen neigen dazu, uns - mit Wissen um diese Grenzen - Regeln zu geben.
Für uns mögen sie Sinn ergeben, doch Kinder spüren, dass Regeln häufig leer sind, nicht aus echtem Widerstand, aus Resonanz entstehen. Oft verkommen Regeln zu Allgemeinplätzen, die immerwährend frustrieren.
Auch mit Grenzen braucht es Regeln. Lesen Sie: Regeln aufstellen
Denn ein "man ist nicht laut", "sei nicht so laut" lehrt dem Kind nichts. Es frustriert es, weil es grundsätzlich eingeschränkt wird. Ein Kind, das grundsätzlich laut sein darf, bis es auf eine Grenze stößt: "Jetzt streng mich die Lautstärke an, kannst Du etwas leiser sein?" erfährt situativ Resonanz, und bleibt ansonsten frei. Die Umwelt reagiert auf das Kind.
Kinder, die selbstbestimmt werden sollen, die hinterfragen und die Auswirkungen ihres Handelns verstehen sollen, sollten echte Grenzen kennenlernen und diese auch so kommuniziert bekommen. Sie müssen lernen, dass ein Verhalten per se nicht schlecht ist, aber je nach Situation angemessen oder unangemessen sein kann.
Erst mit 4 sehen Kinder die Welt
Grenzen sind für Kleinkinder unter 4 Jahren kaum oder gar nicht nachzuvollziehen. Denn dass Kinder mit ihrem Verhalten andere Menschen beeinflussen und in ihnen sogar Gefühle damit hervorrufen können, können Kinder überhaupt erst ab etwa vier Jahren verstehen.
Achten Sie auf Ihre Sprache:
"Man tut das nicht" / "Wir tun das nicht" / "Weil ich das sage" / "Weil das so ist"
frustriert - und lehrt gleichzeitig gar nichts. Streichen Sie diese Aussagen.
Vorher fehlen ihnen die kognitiven Fähigkeiten. Wie auch kein Baby der Welt mit 3 Monaten laufen lernen wird, ist es für Kinder bis ca. 4 Jahren körperlich (nämlich hirnphysiologisch) völlig unmöglich, zu verstehen, dass die Menschen um sie herum Emotionen empfinden, die mit ihnen etwas zu tun haben. Dafür müssen sie zuerst die Meilensteine der Perspektivübernahme und der Empathie in ihrer Entwicklung erreicht haben.
Auch können sich Kinder bis zum Alter von 2,5 Jahren "Nein"s und Regeln gar nicht merken. Denn erst in dem Alter beginnt das Gehirn, Situationen miteinander zu verknüpfen und im Langzeitgedächtnis zu speichern (deshalb stammen auch erst aus diesem Alter unsere ersten Kindheitserinnerungen).
Kindern Grenzen aufzeigen
Wenn nun eine Situation eintritt, in dem ich meinem Kind eine Grenze aufzeigen musss- was tue ich dann konkret?
Häufig reicht es, dem Kind einfach konkret und ohne viel Aufhebens die Situation zu erklären. Dabei keine "leeren" Aussagen zu tätigen (kein: "man macht das nicht", siehe oben), und zu bennen, wo eine Grenze greift.
Zum Beispiel:
"Sing bitte etwas leiser, meine Ohren tun sonst weh / die Dame da drüben kann sonst nicht in Ruhe telefonieren."
"Die Mauer ist zu hoch zum Runterspringen. Du kannst aber an meiner Hand hinunterspringen/von der Kleinen dort hinten hüpfen."
"Das Spielzeug ist kaputt, weil es auf den Boden gefallen ist. Das hält es nicht aus, weil es aus Plastik ist."
"Der Herr ist traurig, wenn Du ihm etwas vom Teller nimmst. Das gehört ihm und er möchte es nicht teilen."
Außerdem: Geben Sie dem Kind im gleichen Zug Handlungsvorschläge mit.
Nein, das heißt nicht, dass Sie Ihr Kind von Grenzen fernhalten- stellen Sie sich einfach immer Folgendes vor: Wenn SIE selbst eine Alternativlösung nutzen würden, wobei sowohl Sie glücklich sind, als auch keine Grenzen überschritten werden würden- dann bieten Sie dies auch dem Kind an. Die Kleinen können selbst noch nicht überblicken, welche Handlungsmöglichkeiten es hat. Sie bringen ihm damit bei, Lösungen zu finden.
Hat das Kind das Gefühl, einfach aufhören zu müssen, wird es frustriert sein. Dabei würde es ja vielleicht sogar weitermachen dürfen.
Dem lauten Kind sagen Sie: Wenn Du dort drüben spielst, bist Du weit genug weg, dass meine Ohren nicht weh tun/Du die Dame beim Telefonieren nicht störst. / Du darfst ruhig weiterspielen- im Flüsterton.
Und so weiter.
Ist Ihr Kind frustriert - zu Recht, denn so plötzlich wird das Kind heftig eingeschränkt! - trösten Sie es! Erzählen Sie immer wieder, dass die Eisdiele nun geschlossen hat. Dass Sie auch heute woanders kein Eis kaufen werden, weil Sie gerne nach Hause möchten. Sagen Sie ihm, dass Sie verstehen, dass es enttäuscht ist. Dass es sicher das nächste Mal klappt.
Reden Sie den Frust klein, oder lenken Sie das Kind ab, wird es nicht lernen, mit Frust umzugehen. Es wird ihn wegschieben, und es lernt: Verdrängung. Er wird bleiben und seine Frustrationstoleranz immer weiter nach unten setzen. Für ein Kind sind diese Einschränkungen kleine Weltuntergänge. Und Frust ist eine heftige Emotion, die es noch nicht bewältigen kann. Bis jetzt kannte es nur Liebe. Trösten Sie es.
Behalten Sie im Hinterkopf, dass Ihre Erklärungen zwar kleine Nervenbahnen bauen, aber erst mit etwa 4 Jahren diese Erklärungen "das tut der Frau weh" an sein Denken "angekoppelt" werden.
Es ist also wichtig, dass Sie von Anfang an erklären, was sein Verhalten verursacht- doch erst mit vier Jahren wird das Verständnis dafür "installiert". Dann werden allerdings schon viele Sätze abgespeichert sein, auf die es nun zugreifen kann. Gab es überwiegend leere Regeln, wird das vierjährige Kind noch keine Sichtweisen abgespeichert haben, und die Perspektivübernahme noch nicht nutzen können.
Lesen Sie hierzu auch:
"Mein Kind kommt unfertig zur Welt - was es hirnphysiologisch noch gar nicht leisten kann"
und "Meilensteine: Perspektivübernahme und Empathie"
Sie sind nicht starr, nie unbegründet. Nicht willkürlich. Sie sind eine Resonanz der Welt auf uns.
